Kurzgeschichten.
Kurze Geschichten - Short Stories
Komprimiert, beschränken sie sich auf das Wesentlichste. Sie hinterlassen Eindrücke und schenken der eigenen Fantasie ausreichend Freiraum.
Schreiben Sie mir, wenn ihnen ein Text besonders gefallen hat.
In der Nacht vor dem Wahlsonntag zur Bürgermeisterwahl im Jahr 2023 habe ich geträumt. Ein wunderlicher Traum –
wenn er nur nicht so realistisch gewesen wäre.
Am Samstag haben sich frühmorgens etliche Seniorinnen und Senioren mit Gehstöcken, Rollstühlen und Rollatoren ausgestattet, auf dem Rathausplatz postiert. Frauen und Männer der Generation 70+. Frisuren in aschgrau oder blondiert, mausgrau, strassenköterbraun, brünett oder in sanften lila Tönen gefärbt. Mit einer lautstarke Demonstration und mit bunt bemalten Plakaten werben sie für sichere Mobilität. Einige rüstige Rentner sind mit Netzen bewaffnet, wie sonst die Hexen bei der Fasnet. Was haben sie damit nur vor?
Kurze Zeit später ziehen sie die fünf angehenden Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die man an den Zugängen zur Stadt abgepasst und eingefangen hat, zum Ratshausplatz.
Ich beginne zu begreifen. Dem künftigen Rathaus-Chef/-Chefin soll gezeigt werden, wie sich eine Fahrt oder ein Gang über die stark beschädigte Montfort-Pflaster-Straße für ältere Menschen anfühlt.
Fünf Rollstühle werden mit den Kandidaten neu besetzt und sie starten auf Rundkurs Nummer 1. Lustvoll kichernd rumpeln fünf rüstige Anschieber in sämtliche Schlaglöcher der Montfortstraße
… Juhee und … Autsch!
Sie überqueren schräg das Pflaster der Straße und benutzen auf dem Weg durch den Städtlesmarkt sämtliche Absätze und Löcher mit geradezu diebischen Vergnügen. Jeder Durchschüttler wird bejubelt Am Torschloss ankommen, steht die Fahrt über die Karlstraße an. Es geht hurtig bergab, über kaum abgeflachte Gehwegabsätze hinweg, durch den Schlosspark und den Schlossinnenhof. Die Suche nach einer barrierefreien Toilette gestaltet sich äußerst schwierig, wenn man nicht gerade in der Nähe vom Parkhaus steht. Die Kandidaten verleiden sich auch am Öffnen von Türen, bis sie reichlich lädiert am Rathausplatz ankommen.
Aber noch liegt der Rundkurs Nummer 2 vor ihnen.
An ihren Armen und Beinen werden schwere Manschetten befestigt, um die Schwerfälligkeit beim Gehen wie bei einem beeinträchtigtem Senior zu simulieren. Die Bürgermeister*innen in spe dürfen aufstehen und begeben sich mit einem Rollator, behindert durch Arm- und Beinmanschetten auf den Weg. Dunkle Sonnenbrillen sorgen für die schlechtere Sicht und ihre Gehörgänge sind mit Watte verstopft. Städtlesmarktbesucher beklatschen schadenfroh die Stolperer der Kandidaten ums Bürgermeisteramt. Zur allgemeinen Freude wird ihnen die notwendige Neuplanung der Innenstadtstraßen plausibel vor Augen geführt. Glücklich, wer durch die verstopften Ohren nicht jeden dummen Spruch hört. Pech, dass sie die klugen Sprüche nur erahnen können.
Doch damit nicht genug.
Die dritte Runde steht an, dieses Mal mit Gehstock und es ist nur den aufmerksamen Senioren, welche die Kandidaten am „gesunden“ Arm führen zu verdanken, dass keiner böse zum Sturz kommt.
Eine Kandidatin knickt um. Sie kann sich gerade noch halten.
Ihr Aufschrei, weckt mich aus diesem surrealen Traum.
Noch bin ich keine Seniorin mit Einschränkungen. Mein Traum aber hat mir vor Augen geführt, was dringend angegangen werden muss. Gepflasterte Straßen und Wege gehören aus Innenstädten verbannt.
Für Senioren, aber auch für Mütter mit Kinderwagen sind ausreichend flache Abfahrten von Gehwegen auf die Straße und retour von Nöten. Die Suche nach Toiletten – barrierefrei gehören auf die Stadt verteilt.
Im dringenden Ernstfall wäre es eine kaum lösbare Aufgabe gewesen und selbst der Besuch von Gaststätten, Cafés und Läden scheitert oft genug an Stufen, weil die Barrierefreiheit in Tettnang für Menschen mit Handicap viel zu oft noch unzureichend ist.
Nach der Wahl übernahm eine Bürgermeisterin das Amt. Sie ahnt nichts von meinem Traum, aber - in den letzten Wochen hat sich in der Montfortstraße etwas getan. Eine Notlösung nur, aber zumindest ein Anfang.
Weitere „Baustellen“ sind noch offen und werden hoffentlich nicht irgendwann, sondern zeitnah in Angriff genommen.
13 Monate Corona. Dieses Virus hat etwas mit uns gemacht. Mit jedem Einzelnen von uns. Jeder spürt es auf die eine oder andere Art und Weise. Die Nachwehen werden noch monatelang zu spüren sein. Vielleicht vergehen sogar Jahre, bis wir uns so sorglos umeinander scharen, wie das 2019 selbstverständlich gewesen ist. So selbstverständlich, dass wir es ohne darüber nachzudenken getan haben.
Clara die Ängstliche. Um sich mit diesem verdammten Virus nicht anzustecken, verlässt sie ihre Wohnung nicht mehr. Seit mehr als einem Jahr traut sie niemandem über den Weg. Sie bestellt die notwenigen Lebensmittel bei einem Händler vor Ort und ein Fahrradkurier stellt die Ware vor die Haustüre. Um nicht ganz zu vereinsamen, hängt sie stundenlang am Telefon, ruft alte Freunde an, viele längst vergessen geglaubte melden sich auch bei ihr.
Ottilie die Lässige. Sie sieht sich das Treiben der Menschen gelassen an. Sie setzt sich eine FFP2-Maske auf und spaziert, wann immer es möglich ist durchs Städtle. Wenn schon kaum mehr ein Besucher zu ihr kommt, so will sie doch erleben, was um sie herum so los ist. Einem Tratsch auf dem Markt weicht sie nicht aus, sondern schiebt frohgestimmt ihren Rollator vor sich her. Einsamkeit, das kennt sie nicht, auch wenn die Abstände zwischen den Menschen zu wünschen übriglassen.
Robert der Gehetzte. Ihm hingegen bleibt keine Zeit, sich mit dem Thema Corona zu befassen. Frühmorgens ist er wie immer auf dem Weg zur Arbeit. Im Verteilzentrum der Post ist seit März 2020 die Hölle los. Die Sortierbänder rattern unermüdlich, Stunde um Stunde bis zum Schichtende. In dieser verrückten Zeit stapeln sich die Päckchen und Pakete und Robert fällt danach erschöpft aufs Sofa, stellt den Fernseher an. Seine Kollegen im Außendienst laufen zur Hochform auf. Überstunden an der Tagesordnung. Sie verstehen die Welt nicht mehr, wenn sie in einer Wohnanlage gefühlt 30 Päckchen pro Tag abliefern, wohl wissend, dass der Kollege im Postamt mindestens die Hälfte davon wieder zurückschickt.
Online das Maß aller Dinge. Homescooling treibt Schüler, Lehrer und Eltern nicht nur einmal in den Wahnsinn. Mit den neuen Medien sind nicht nur die Schüler überfordert. Viele Schulen sind digital schlecht ausgestattet, ältere Lehrer ohne Sachkenntnisse und das Internet funktioniert auch nicht überall. Digitale Hinterwäldler-Industrienation Deutschland. Drückt der Staat das Lernen eben den Eltern auf. Mütter und Väter müssen Kinderbetreuung, Homescooling, und eigenes Arbeiten unter einen Hut bringen. Hut ab vor allen, die diesen Spagat Tag um Tag, Woche um Woche und Monat um Monat leisten.
Normalität schreit. Nach 13 Monaten auf und zu, rauf und runter, frei und gefangen in der Menschheit weltweit werden wir ungeduldig. Trotzdem fragen wir uns, wie unsere Gefühle nach der Pandemie ticken. Werden wir beim langersehnten Musikfestival in einem Pulk stehen und mitsingen, werden tausend Fans im Fußballstadion gemeinsam um die Wette schreien. Erleben wir dieselben sorglosen Momente des Glücks, wie vor Jahresfrist?
Anna die Zweiflerin. Sie misstraut der Situation noch sehr. Ob sie sich in Zukunft wieder überall sicher fühlen wird, das ist fraglich. Wann sie das nächste Mal in ein Flugzeug einsteigt, das ist ungewiss. Obwohl ihre Sehnsucht nach Meer sie durchaus dazu verleiten, sie antreiben könnte. Sie bezweifelt auch, ob sie gleich nach der Öffnung wieder Vereinssport in einer Halle treiben will und schon gar nicht, ob sie beim Einkaufen den Drängler hinter ihr nicht jedes Mal schief anschauen wird.
Im letzten Moment war die kleine Herz-Praline dem gierigen Schlund entkommen. Atemlos, zitternd lag sie nun in ihrer Pralinenschachtel, eingehüllt in Goldpapier. Der Schrecken saß ihr gehörig in der Cremefüllung. Da klopfte jemand an ihre Schachtel. Ihr Herz stand still, bis sie erleichtert, ihren Freund Snickers rufen hörte.
"Pralinchen, Liebes, wo warst du nur so lange?"
„Schnell, geh nach hinten", japste sie und hüpfte aus der Schachtel. Raschelnd schob sie ihren Freund in die hinterste Schrankecke. Hier sollten sie vorerst in Sicherheit sein. Pralines Aufregung saß noch so tief in der Walnuss. Dabei schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sich seit dem Jahreswechsel in diesem Schrank alles, aber gar alles verändert hatte. Keiner war mehr sicher. Nicht einmal sie, der winzigste Winzling.
Früher waren ihre süßen Verwandten in den allermeisten Fällen an Altersschwäche gestorben. Wenn sie quitschfidel in diesem Schrank angekommen waren, hatten sie schnell bemerkt, dass nur die Salzstangen ab und an um ihr Leben bangen mussten. Im Chor sangen sie stundenlang von ihrem Glück, hier gelandet zu sein.
Denn nur gelegentlich hatte eine schmale Hand in den Schrank gegriffen, ein süßes Stück nach dem anderen herausgenommen und auf einem Silbertablett drapiert. Liebevoll hatte die junge Frau ihren Schokoladenvorrat betrachtet. Dabei hatten ihre blassblauen Augen vor Glück gestrahlt, wenn sie jede einzelne Praline Stück für Stück mit einem Seufzer an ihren Platz zurückgelegt hatte.
Erst wenn sich ein Teil grau färbte, legte sie den Schoko-Patienten in eine Quarantäneschachtel. Um ihn kümmerte sie sich in den folgenden Wochen ganz besonders. Erst wenn das Schokoladenstück endgültig Schimmel angesetzt hatte, nahm sie den Kranken ein letztes Mal heraus, streichelte ihn und trug ihn für immer fort. Die alte Quarantäneschachtel verschwand und wurde gegen eine neue Box ausgetauscht.
Seit dem Neujahrjahrtag aber griff Tag für Tag eine raue Männerhand in den bisher sicheren Schrank. Das Schokoladenmonster, zu dem die Hand gehörte, warf alles wahllos durcheinander und ergriff, was immer es zwischen seine dicken Finger bekam. Die leeren Tüten häuften sich und dennoch sorgte das Monster täglich dafür, dass das bisher harmonische Plätzchen zum unsichersten Platz in Pralines bisheriger Welt mutierte.
Vor wenigen Minuten erst hatte die Monsterhand in den Schrank gegriffen, wahllos zugeschnappt und hatte neben einem Duplo auch die kleine Lindt-Praline aus ihrer Schachtel gezerrt.
Zusammen mit dem Schokoriegel war sie bereits dem Rachen des Schokoladenmonsters entgegengeschwebt. Entsetzt musste sie zusehen, wie der Gierschlund sich geöffnet hatte, ein Stück von dem Riegel zwischen seinen scharfen Zacken zermalmte. Es hatte das Maul kurz nur geschlossen, solange es kaute, und dann den übriggebliebenen Rest hinterhergeworfen. Sekunden später hatte das Monster Pralinchen ausgepackt und in die Höhe gehoben. Es hing bereits über seinem Schlund. Sie hatte verschmierte Zacken erkannt und tief in den feuerroten Schlund geschaut, an dem noch Duplos Schokofarbe klebte. Sie erschauerte. Gleich würde es endgültig aus sein mit ihr, aus und vorbei. Wie ihr Freund Duplo würde sie zerquetscht in die Tiefe des Hohlraumes abstürzen müssen. Sie spürte schon, wie sich der Druck seiner Finger löste, da ertönte der schrille Aufschrei ihrer Retterin.
„Nicht meine Herz-Praline! Die nicht!“
Die Frau, die ihre Praline seit Monaten nur zärtlich angeschaut und dann wieder in den Schrank zurückgelegt hatte, entriss ihren Liebling dem Schokomonster. Vorsichtig hatte sie ihr Pralinchen in die Hand genommen, das Herzchen liebevoll angesehen, in Goldpapier eingewickelt und dann zärtlich in den Schrank zurückgelegt. Bevor die Türe sich hinter ihr schloss, hatte das Herzchen noch Sonderbares gehört.
„Lass meine kleine Lindt-Praline in Ruhe, Siegbert“, hatte sie mit ihm geschimpft. „Die gehört mir und nur mir allein. Ich habe dir genügend Vorrat für die nächsten Wochen eingekauft, aber - du teile dir deine Naschereien wenigstens etwas ein.“
„Ach, mach doch keinen solchen Aufstand. Dann füllen wir den Schrank halt wieder“, murrte er.
„Mach dir das nicht zu einfach, mein Lieber. Wenn das Corona-Virus weiter so wütet, kannst du dir deinen Nachschub bald im Internet ausdrucken und dann anschauen, anstatt die Schokolade in dich hineinzustopfen,“ lachte sie ihn aus. Dann aber hatte die geschlossene Tür die Unterhaltung unterbrochen.
Fräulein Praline gingen die Worte ihrer Retterin nicht aus dem Kopf. Ein Virus wütete im Leben der Menschen und ausgerechnet jetzt musste dieses verfressene Schokomonster bei ihr eingezogen sein. Diese Männerhand, dieses Monster, das glich einem lebensgefährlichen Virus oder einer Bakterie, die sich nahm, was ihr gerade in die Pfoten kam. Die Überlebenschancen im Schrank hatten sich dadurch in den letzten Tagen dramatisch verändert. Bis zum heutigen Tag hatte kleine Lindt-Praline, wirklich Glück gehabt. Jetzt war sie nur noch dankbar, dass sie immer noch der erklärte Liebling der Frauenhand gewesen war, selbst wenn ihr Aussehen längst nicht mehr taufrisch glänzte. Aber irgendwie hatte sie an einen Narren an ihr, dem Winzling gefressen. Dabei wies ihre Figur bereits die eine oder andere Delle auf, was darauf hindeutete, dass ihr Lebenszyklus bald in der Quarantäneschachtel enden musste.
Jetzt aber streckte die Hand nach ihrem Freund aus und umfasste ihn zärtlich. Leise knisterte seine Verpackung. Snickers war erst vor zwei Tagen mit seiner Familie in einer riesigen Tüte angekommen und sie hatten sich sofort ineinander verliebt. Um zwei seiner Brüder, die bereits am ersten Tag nach ihrer Ankunft im Maul des Schokomonsters sterben mussten, hatten sie gemeinsam getrauert. Verzweifelt hatte seine Familie nach dieser Fressattacke ein geschützteres Versteck im Schrank gesucht. Mit Hilfe von Snickers Familie hatte sie sie die Lindt-Pralinen-Schachtel und die eigene Tüte hinter ein Glas mit Uralt-Bonbons gezerrt. Doch selbst dort hatte das Monster heute die kleine Lindt-Praline gefunden.
Endlich hatte sich ihr Schrecken gelegt und sie schob mit Snickers Hilfe zwei alte Tafeln Bitterschokolade, die im Laufe der Zeit hier eine Heimat gefunden hatten, vor das Bonbonglas. Eine ideale Tarnung, dachte sie, denn das Schokomonster würde sich kaum für Alt und Bitter interessieren. Allerdings war dahinter nur sehr wenig Platz. Für Snickers Familie würde es zu eng werden, das Glas allein bot zu wenig Schutz und hinter den Bittertafeln war nur Platz für sie beide.
Ihr Freund wagte den gefährlichen Weg zur Tüte der Familie zurück, um von ihnen Abschied zu nehmen. Denn niemand konnte wissen, wann sich die Tür wieder öffnete. Ungeduldig und mit klopfendem Herzen wartete Pralinchen, bis er unversehrt zu ihr zurückkehrte. Blieben sie bis zuletzt übrig, dann war es ihnen vor dem Tod vielleicht doch vergönnt, diese Tage gemeinsam zu verbringen.
Innerhalb kürzester Zeit leerte sich der Schrank. Snickers und Pralinchen konnten das Drama, das das Schokoladenmonster anrichtete kaum mehr mit ansehen und sie ergriffen die Initiative. Vor lauter Kummer hatte Pralinchens Schokoladenkleid inzwischen den ersten Schimmel angesetzt. Da kam ihr die Idee, wie sie die übriggebliebenen Schokoladenfreunde und vor allem Snickers und den Rest seiner Familie retten konnte. Das Monster musste überlistet werden. Sie wollte es mit ihrem Schimmelvirus endgültig außer Gefecht setzen.
Da öffnete sich die Tür und das Monster schlug wieder einmal gefräßig zu. Die Hand schnappte sich die letzten Knoppers und Snickers wurde bei seinem Anblick kreidebleich. Auch der Magen seiner Freundin verkrampfte sich.
Meine Güte, schoss es ihr durch den Kopf. Dieser Vielfraß rafft alle Freunde dahin. Traurig schmiegte sie sich an Snickers und weinte. So durfte es nicht mehr weiter gehen. Sie musste das ändern. Beherzt wischte sie sich die Tränen aus den Augen und bat Snickers, ihr zu helfen, den Plan umzusetzen. Sie konnte einfach nicht länger tatenlos herumzusitzen. Gemeinsam würden sie dem Monster etwas vorsetzen, das ihm ein für alle Mal den Appetit auf Süßes verderben würde.
Weil Pralinchen täglich mehr Schimmel ansetzte, gelang es ihr, den zuerst entsetzten Snickers davon zu überzeugen, dass es ihr Ernst war, sich für den Frieden im Schrank zu opfern. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Der Schimmel würde überhandnehmen. Ihr Sterben war vorprogrammiert.
Sie war bereits zwei Jahre alt, für eine Schokopraline eine kleine Ewigkeit. Sie musste und wollte dem Schokomonster das grausame Fressen mit ihrem letzten Atemzug heimzahlen, um so ihre Freunde zu retten.
Zuerst kratzten sie ihren Schimmel ab und polsterte durch eine kleine Öffnung die schwindende Cremefüllung auf. Snickers half ihr, sich aufwendig zu polieren und herauszuputzen. Er strich das Goldpapier sorgfältig glatt und wickelte es zärtlich um sein Lindt-Pralinchens. Er küsste sie ein letztes Mal, bevor er das Papier um sie schloss. Ohne zu ihm zurückzuschauen kugelte sie sich aus dem Versteck, legte sich ganz nach vorne an die Tür und jetzt erst winkte sie Snickers noch einmal zu. Die Minuten verstrichen. Ihr kamen erste Zweifel, ob das wirklich eine so gute Idee war, da fiel Licht durch die sich öffnende Schranktüre.
Am liebsten wäre sie wieder in ihrer Schachtel verschwunden, aber es war zu spät. Nur der Gedanke, dass sich das Schokomonster vor Schmerz und Übelkeit gleich am Boden winden würde, bestätigte ihren längst gefassten Entschluss.
Noch bevor sie Snickers zublinzeln konnte, riss das Schokoladenmonster ihr das Goldpapier vom Leib. Sein gieriger Rachen öffnete sich und Praline rutschte abwärts. Ihr letzter Gedanke galt ihrem Snickers und den noch übriggebliebenen Schokoladenfreunden, die dank ihrem Opfer lange Zeit vor dem Monster Ruhe haben würden.
… nur ein Glas Wein
Manchmal, wenn ich mir ein Viertel Roten einschenke, drängt es meine Gedanken zurück an
den kleinen Tisch unter den Arkaden. Den Tisch, an dem ich mit dir gesessen bin, während die anderen Kurpatienten dem Sommermärchen Fußball frönten. Wir waren keineswegs ein Liebespaar, bei
Weitem nicht und dennoch ... du hast meine Seele berührt. Eine Sternschnuppe warst du. "Heute Stern und morgen schnuppe". Wie hat dich dieser Ausdruck amüsiert. Ich weiß trotzdem nicht, wie es
geschehen ist, dass du mir selbst nach Jahren noch immer sehr nah bist. Auch jetzt, da es dich nicht mehr auf unserer Erde gibt, bin ich mir sicher, dass auch du es nicht lassen wirst können, von
einer Wolke aus zu mir herunterzuschauen.
Du nickst mir zu, nicht wahr? Wenn ich das Weinglas an die Lippen setze und den ersten Schluck wie einen Bissen in meinem Mund hin und her bewege, dann spüre ich deine Nähe. Das Aroma kitzelt
meinen Gaumen, Licht zaubert ein funkelndes Rot ins Glas, bis ich glaube, dein liebevolles, bärtiges Teddybärengesicht wieder vor mir zu sehen.
Ich vermisse dich, den exzellenten Gesprächspartner, so wie du einer gewesen bist. Einer der mir zugehört hat, meinen Worten lauschte und sie in sich aufnahm. Der die Finger sacht über meine Hand
legte, wenn es eine traurige Geschichte gewesen ist, die ich erzählt habe. Du warst einer, der mit den Augen blinzelte und herzhaft loslachte, wenn ich dir etwas Lustiges erzählt habe. Ich
vermisse deinen liebenswerten niederbayrischen Dialekt, der den Trinkspruch begleitet hat, wenn wir die Gläser ins Kerzenlicht gehoben haben und du von der Familie geträumt hast, von deiner
geliebten Frau und von deinen Töchtern.
Ich entbehre dich, lieber behäbiger Brummbär, weil dich das Asthma so plagte, dass du mühsam überredet werden musstest, die Kurklinik für ein paar Schritte zu verlassen. Jeden Tag ein Stück
weiter hinaus habe ich dich gelotst. Und du hast meine Kraft gespürt, die ich dir für diese besonderen Momente leihen durfte. Wie stolz bist du gewesen, als wir zum ersten Mal die nur zweihundert
Meter entfernte Eisdiele erreicht haben, wenige Ausflüge später die Weinstube, in der wir so gerne geplauscht haben. Ich erinnere mich, wie du auf dem Nachhauseweg in der St. Aigidi Kapelle eine
Rast einlegt hast, um Kerzen für unsere Lieben zu Hause anzündeten und wie die Lichter einträchtig nebeneinander gebrannt haben.
Nach gemeinsamen Wochen in der Reha sind wir auseinander, gegangen doch unsere besondere Freundschaft hat das Leben überdauert .. und sie tut es sogar über deinen Tod hinaus.
Inzwischen gäbe es noch so vieles zu sagen, das es wert gewesen wäre, mit dir zu teilen.
Heute sitze ich wieder vor einem Glas Rotwein und ich denke an dich und die verpassten Gelegenheiten, die durch das Verschieben unserer Besuche ungenutzt verstrichen sind.
... Prost, alter Freund.
Wärme schlägt ihr entgegen. Der Geruch von frischer Farbe vermischt sich dezent mit einem Hauch Modrigkeit, der lange leer stehenden Häusern anhaftet. Sie geht in die hellblaue Küche, deren
uralte Einrichtung sich mit viel Fantasie mit einer Landhausküche vergleichen ließe, stünde nicht in zentraler Mitte noch der Steinabguss, den ihre Patentante „Schüttstein“ nannte. Die
Patentante, ihre geliebte Tante Luise von Greifheim, vererbte der alleinstehenden Journalistin das Haus am Untersee. Sie verband das Erbe allerdings mit der Auflage, das Fachwerkhaus in
regelmäßigen Abständen zu bewohnen. Es ist Gerlinde keineswegs schwergefallen, ihre Unterschrift unter die Bedingung des notariellen Dokuments zu setzen. Seit langem schon fühlt sie sich
ausgebrannt, überarbeitet, schläft schlecht und ihre rastlosen Gedanken drehen sich in ewigen Endlosschleifn. Ihren Entschluss, sich mit einer halbjährigen beruflichen Auszeit abzuschotten,
bereut sie nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Endlich kann sie ein lange gehegtes Vorhaben in die Tat umzusetzen, ihre Lebenserinnerungen in Worte fassen und die wirren Träume, die sie seit
Tante Luises Tod beherrschen, zu Papier bringen. So dachte sie zumindest bis vor wenigen Tagen.
Gerlindes Blick durchs Fenster fällt auf den gelben Blätterregen der Birke, während sie den Gedanken nachhängt. Erst das Pfeifen des Teekessels reißt sie in die Gegenwart zurück. Automatisch
greift sie nach dem metallenen Griff. Mit einem Knall fällt der heiße Topf auf die Herdplatte zurück. Penetrant pfeift er weiter, bis sie ihn mit Häkeltopflappen vom Herd zerrt. Sie hält die
verbrannte Hand einen Moment unters kalte Wasser. Dann öffnet sie den Küchenschrank und entnimmt ihm eine rosengemusterte Tasse und gibt weißen Jasminblüten in das Tee-Ei um ihren
Lieblingstee aufzubrühen. Ihre Finger umschließen die Tasse, als sie sich der Wohnstube zuwendet,. Es ist der einzige Raum im Untergeschoss, den die Handwerker in seiner Urform belassen
mussten, weil er den Duft ihrer Kindheit atmet. Nur auf dem winzigen Mahagonischreibtisch steht eine neuzeitliche Erfindung - ihr Laptop. So wie sie es seit Tagen tut, klappt sie auch heute
ihr Notebook auf, drückt den Einschaltknopf und fährt das System hoch. Das blaue Licht vertreibt die einsetzende Düsternis, doch das immer noch unbeschriebene Blatt auf dem Display mustert
sie feindselig. Es wartet, beharrlich und stumm. Gerlinde wartet erbeben darauf, dass sie die Tasten in Bewegung setzen kann, mit Buchstabenreihen die Erinnerungen, die in ihrem Kopf
umherschwirren, endlich in eine lesbare Form zu bringen. Ihre Augen allerdings starren wie in Trance auf die weiße Fläche des Word-Dokumentes.
Geruchsfetzen steigen in ihre Nase. Angestrengt spürt sie dem blumigen Hauch auf ihrem Kleid nach, den ihr Spaziergang durch die alten Rosenspaliere hinterließ. Selbst der ihm eigene Duft des
seichten Uferwassers, den die Nebelschwaden an Land zerrten, haftet auf ihrer Haut. Ein herbstlicher Farbfächer erblüht vor ihrem inneren Auge aus. Blausilbrig die schimmernde Seefläche im
Sonnenlicht, herbstlicher Blätterregen, die Farbenkomponenten alter Rosensorten und purpurroter Dahlien. Das Farbenspiel, welches das Nebelmonster und die einsetzende Dunkelheit inzwischen
verschluckte. Sie starrt zum Fenster hinaus. Wie lange sie dies tut, vermag sie selbst nicht zu sagen.
Vom Computer erhellten Schein setzt sie sich in den Gobelin bezogenen Stuhl. Sie lehnt sich in Tante Luisens Lieblingsstuhl zurück. Gerlinde schließt die Lider. Da hört sie es wieder, wie das
Haus knarzt, wie es flüstert und ächzt. Spukgestalten schleichen umher und lachen ihre Schwäche aus. Stimmen flüstern in ihrer Nähe. Sie will den Geräuschen nachzugehen, aber unsichtbare
Fesseln fixieren sie, weder Beine noch Hände gehorchen ihren Befehlen. Ein Angstschrei sitzt tief in ihrer Kehle. Er bleibt stecken, bis ihre Atmung nur noch flach den Brustkorb hebt. Ihre
Augen folgen mit sprachlosem Entsetzen einem Lichtkegel, der unter der angelehnten Tür zum Esszimmer verschwindet.Nun verselbstständigt sich ihr Geist. Er verlässt ihren gefesselten Körper,
huscht zur Türe und setzt dem Lichtschein nach. Er schiebt die Tür zur Seite, die sich eigenartiger Weise völlig geräuschlos öffnet. Gegenüber vom Esstisch liegt freigelegt eine dunkle
Öffnung in der Tapete. Gerlinde spürt den Schauer ihres Alptraumes in Kindertagen.
Verstört und von ihren eigenen Schreien erwacht, ruft sie nach Tante Luise. Als sie nicht antwortet, klettert sie aus dem Bett um bei ihr Schutz zu suchen. Das zehnjährige Mädchen mit eng
geflochtenen Zöpfen tastet sich durch das stockdunkle Haus. Sie steigt die Stiege ins Untergeschoss hinab und bleibt in geblümten Nachthemd vor der geöffneten Tapetentür im Esszimmer stehen.
Ein gerundeter Mond beleuchtet durch das gegenüberliegende Fenster die Öffnung. Naseweis stellt sie sich auf die erste Holzstufe. Schaudernd sieht sie in den schwarzen Schlund. Magisch
angezogen nimmt sie eine Stufe nach der anderen. Es ist still, mucksmäuschenstill. Nur ab und an macht ein beinahe unmerkliches Geräusch vor einer Wand halt, um trippelnd weiter zu huschen.
Sie folgt ihrem winzigen Führer durch das eiskalte Labyrinth. Mehrmals zweigt es ab, bis es plötzlich steil nach unten führt. Sie stolpert, rutscht aus und plumpst mit den nackten Fußsohlen
voraus in ein weiches Moosbett.
Der modrige Geruch des Geheimganges verschwindet in frischer Seeluft. Der Vollmond weist ihr den Weg entlang eines Wasserlaufs, der zum See hinabführt. Die kleine Gerlinde klettert über die
Uferböschung und rutscht dem Seegrund entgegen. Ein Schrei zerfetzt die kühle Nachtluft. »Gerlinde! Nicht weiter! Gerlinde! Bleib stehen! «Wasserfontänen spritzen auf. Eine Hand packt das
Mädchen an der Schulter und reißt sie zurück. Der hastige Atem von Tante Luise trifft ihren Hals. Zwei warme Arme schließen sich um den durchnässten Körper. Gerlinde starrt in ihr aufgelöstes
Gesicht. »Dummes Kind!«, schimpft es leise neben ihr, doch ihr Tonfall klingt glücklich. Glücklich, weil sie die Mondsüchtige vor dem Ertrinken retten konnte.Gerlindes utopische Fesseln sind
längst abgefallen. Wie benommen wankt sie von ihrem Lehnstuhl an den Schreibtisch. Ihre Finger fliegen über die Tasten. Buchstaben reihen sich aneinander. Worte fließen auf die leeren Seiten
und füllen sie mit dem unendlichen Fundus an Kindheitserinnerungen. Erst mit beginnendem Morgenlicht heben sich die Finger die Schreiberin von der Tastatur. Mit einem erleichterten Seufzer
streckt sie die verspannten Muskeln und schließt den Deckel ihres Laptops. Ihre Schreibblockade gehörte der Vergangenheit an. In dieser eigenartigen Nacht verwandelte sie sich in einen wahren
Schreibrausch.
„Frühlingsschleier, Frühlingsglück, für jeden Tag ein kleines Stück. Lalala, lala, lalala lala …“ Beschwingt klingen die Töne des Liedes durch die Lüfte, doch niemand scheint sie zu hören.
Die Fee horcht. Schläfrige Stille liegt über den Fluren. Sie lauscht, da hört sie die leise schnarchende Winterruhe.„Winterruhe?“, verwundert schaut sich die kleine Fee um. Hat sie sich
vielleicht in der Zeit geirrt? Ist sie zu früh aufgestanden oder hat ihre Uhr den falschen Zeitpunkt angezeigt? “Sie atmet tief ein, und nein, sie ist sich ganz sicher, es duftet doch bereits
überall nach Frühling. Im Morgenerwachen hat die Sonne Bäume und Büsche, Blumen und Gräser zuerst zart rosa bepinselt, aber jetzt liegt das Land vor ihr bereits in ein sattes Sonnenlicht
getaucht. Silberwolken zieren das helle Blau des Himmels, ziehen die Tropfen der tauenden Schneereste himmelwärts. Sie schmücken das Kleid des Frühlings mit hellem Glanz. „Na also“, brummt
die Märzfee. „Das Land ist bereit. Scheinen nur noch die Tiere und Pflanze zu ruhen. Die Langschläfer werde ich jetzt aus dem Winterschlaf wecken“. Sie kichert ein wenig und macht sich auf
den Weg.„Der März ist da. Frühling ist es! Aufstehen! Das neue Leben beginnt.” Die kleine Märzfee zieht Tag um Tag singend und laut rufend durchs Land. Unterwegs verhält sie immer wieder
ihren Schritt und greift unter den sonnenglänzenden Feenumhang. Die Hände mit kunterbunten Blumen-, Gräser- und Kräutersamen gefüllt, zieht sie die Fäuste heraus und streut die Samen auf die
Böden der ruhenden Wiesen, Wegränder, Felder, Gärten und Wälder. Märzfees Sonnenfreund küsst die Samen, bevor sie auf der Erde ankommen. Jeder Sonnenstrahlkuss weckt das Land ein wenig mehr.
Dort wo der Feensamen die Erde berührt, regt sich sogleich ein quirliges Treiben. Tiere kriechen aus ihren Schlafhöhlen hervor, und schieben das neugierige Näschen an die frisch duftende
Luft. Sträucher und Bäume, Gräser und Kräuter, die ersten Schneeglöckchen und Märzenbecher recken sich der Sonne entgegen, bilden neue Triebe, schieben die Blätter aus der Erde heraus und aus
den blattlosen Zweigen. Erste Blüten öffneten ihre Blütenknospen. In den Waldbächen regt es sich, während die Frösche auf Wanderschaft gehen. Am Ufer des Sees suchen Enten und Schwäne nach
den ersten zaghaften Wasserpflanzen. Bald sieht man die ersten Forsythien blühen und überall bestimmt ein reges Treiben und der süßer Duft das endgültige Erwachen der Natur. “Fein!”, freut
sich die Märzfee, als allerorten Frühlingsfreude das Land umweht und jeder Tag ein kleines Stück Frühlingsglück mehr offenbart. „So ist es gut.”Stolz schaut sie von einer Anhöhe aus auf ihr
Werk, lächelt beim Anblick über ihr bunter gewordenes Bodenseeland.
Nur für die Menschen, die sich in diesen Tagen schläfrig und schlapp fühlen, die niesen und husten, für sie kann sie nichts mehr tun. Der Beutel mit den Feen-Wundersamen ist leer. Und so wird
es leider noch eine Weile dauern, bis die Menschen endgültig aus ihrer Frühjahrsmüdigkeit aufwachen und den Frühling genießen können.
Ich krame in der auf dem Boden stehenden Schachtel nach meiner Medikamententasche mit der Aufschrift "Apotheke". Zuunterst werde ich fündig, presse mit Schwung mein Meerwasserspray ins rechte Nasenloch. Pffft. Noch eine Ladung ins linke, pfft. Vorsorglich wandert das Spray in meine Hosentasche. Die herumliegenden Utensilien verfrachte ich in den bereitstehenden silberfarbenen Kosmetikbeutel, den ich gemeinsam mit der Apothekentasche im Karton verstaue. Blaue Edding-Buchstaben mit »Bad« leuchten mir entgegen. Klappe zu. Ein letzter Blick. Nichts vergessen. Nein, hier bin ich fertig.
Schnurstracks düse ich in die Küche. Beim Teeaufbrühen schwappt das Wasser aus dem Wasserkocher über den Teebeutel hinaus.
"So ein……….. ". Ach was soll´s, winke ich meine Erregung ab. Ich ziehe aus. Meine Lippen pressen sich zu einem schmalen Strich zusammen. Ich ergreife den nächstbesten Lumpen, beginne systematisch und gründlich, aus reiner Gewohnheit, die überschüssige Flüssigkeit vom Schrank und vom Boden aufzuwischen. Ich begreife nicht, dass ich aus meinem heißgeliebten kleinen Nest am Seeufer ausziehen muss. Nur, weil die junge Göre des Vermieters sich nach 20 Jahren entschloss, ins Elternhaus zurückzukehren. Phhh, billig wohnen, das will die aufgetakelte Schikse. Da können die Alten lange warten, bis der aufgedonnerte Pudel schlabbrige Ärsche wischt. Geschieht ihnen ganz recht, schäume ich in Gedanken, bevor das Eigenmitleid von mir Besitz ergreift.
"Und ich? Wer denkt an mich? Wen interessiert es, dass ich fort muss von meinen lieben Freunden. Wer kümmert sich in Zukunft um das weiße Schwanenpaar, um die braunen Enten und die schwarzen Blesshühner." Jeden Abend, wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fiel, ging ich an den See hinunter, fütterte meine vertrauten Schützlinge.
Ein tiefer Seufzer zieht durch meine Brust und ich ergebe ich mich einmal mehr meinem unausweichlichen Schicksal, während ich gedankenverloren den letzten bereitliegenden Würfelzucker in die »Gute-Laune-Tasse« meiner Kollegen werfe. Die rechte Hand stemmt den Becher an meine Lippen und ich verbrenne mir mit dem heißen Getränk die Zungenspitze.
„Geht heute irgendetwas gerade?“, schimpfe ich im Selbstgespräch vor mich hin, als es klingelt. Es klingelt nicht normal, nein, nein. Es läutet Sturm. Garantiert erlaubt sich ein Rotzlümmel auf dem Weg zur Schule einen Spaß und pappt seinen Kaugummi auf den Klingelknopf. Das Dauergeräusch verstummt. Ich schaue verdutzt aus der Wäsche. .... doch Sekunden später setzt das penetrante Drrrrrrrrrrrrrrt erneut ein. Meine flache Hand klatscht ans Hirn.
»Verdammt, pennst du mit offenen Augen? Meine Möbelpacker!«, stelle ich mit einem entsetzten Blick auf meine Armbanduhr fest. Ich drücke den Öffner, schiebe den Sicherheitsriegel zur Seite und spähe erstaunt nach den zwei Hungerhaken, die im Treppenhaus in den zweiten Stock heraufsteigen.
“Möbelpacker? Du meine Güte? Die sind doch genauso dürr wie ich«, runzeln sich staunend meine Stirnfalten. „Das wird heiter. Diese Fliegengewichte brechen unter meinen Bücherkisten zusammen und vor allem - wie soll mein Klavier über die Treppe hinunter?« Das Gewicht meiner Kisten geht nicht konform mit meiner Vorstellungskraft bei den Spargelstangen, die mit entgegenkommen.
Dabei gab ich mit solche Mühe bei der Wahl des Unternehmens. Tagelang durchforstete ich sämtliche möglichen Internetseiten nach einer Firma, die professionelle Hilfe für eine alleinstehende Frau beim Umzug versprach. Zum günstigsten Preis - klar, ich wohne nicht umsonst seit zwei Jahrzehnten im Schwabenland. Hier dreht man den Pfennig schon mal so lange um, bis er als Kupferdrähtchen eine neue Verwendung findet. Das begriff ich, die ich aus Hannover stamme rasch, als mich meine Journalistenkarriere an den Bodensee verschlug. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not!, predigte meine knauserige Vermieterin unverdrossen, wenn ich mit einem winzigen Anliegen vor ihrer Tür stand. Im Laufe der Jahre lernte ich, genauso knickrig wie der Schwabe zu sein.
Das Möbelpacker-Angebot aus Ulm war richtig billig gewesen, kein anderes toppte es und ich griff beherzt zu. Die windigen Packer waren heute Morgen 100 Kilometer angereist, aber- sie erscheinen zur vereinbarten Zeit. Punkt 9.00 Uhr. Eine ebenso überaus wichtige Eigenschaft bei den alemannischen Bergvölkern. Pünktlichkeit. Ich verlange sie gerne von meinen Mitmenschen, bei mir selbst - konnte ich, ganz Hannoveraner Art, äußerst großzügig sein. Ich schiebe den Gedanken zur Seite und versuche mir vorzustellen, wie sich die Knochengerüste bei meinen vierzig, fünfzig Bücherkisten anstellen.
“Miro“, stellt sich der ältere der Beiden vor, weist auf seinen milchgesichtigen Partner, der die Zwanzig bestimmt noch nicht überschritten hat. „Das ist Juri. Wir sind ihre Möbelpacker. Wo anfangen?“
Selbstbewusst treten sie durch meine Wohnungstür und sehen sich um. „
Was zuerst?“, fragt Miro, da ihm meine Antwort wohl zu lange dauert. Er weist auf meinen Flachbildschirm. „Da anfangen, Frau? Fernseher, Stereoanlage, Computer, ja? Dann Kühlschrank und Geschirrspüler? Wir nehmen Elektrogeräte erst,“ bestimmt er und beginnt das teure Gerät vom Strom zu nehmen. Bevor er weitere Stecker ziehen kann, fahre ich entsetzt dazwischen.
“Sind Sie verrückt. Mal schön langsam, Miro“, herrsche ich ihn an. „Erst bezeichnen, verstehen? Ich nicht fertig.“
Ich nehme ihn am Ärmel und bugsiere in ins Arbeitszimmer. „Da stehen meine Bücherkartons. Die müssen zuerst hinunter,“, gebe ich eine klare Anweisung.
Der Ältere zuckt seine Achseln und wirft seinem Partner einen komischen Blick zu. Das Ganze ist eigenartig. Warum, wie soll ich es benennen? Ich zucke die Schulter.
Die Packer wuchteten sich die ersten Bücherkisten mit Gurten auf den Rücken. Einem kurzen Ächzen folgt Miros Frage mit einem fetten Grinsen im Gesicht, ob ich Steine verpackte. Ich fühle mich geschmäht und drehe mich wortlos weg. Sie trabten los. Ich zolle trotz meiner Verstimmung den Fliegengewichtlern schweigend meinen Respekt. Aus dem Küchenfenster beobachte ich, wie sie die Pakete in dem orangefarbenen Lieferwagen mit der Aufschrift -Wir transportieren alles- über der Ulmer Telefonnummer verstauen. Die Hälfte der Kisten verschwinden in den nächsten Minuten im Bauch des Gefährtes Ich stelle den wortkargen Packern Limonade zurecht.
“Kein Bier“, fragt Miro. Ich schüttelte energisch den Kopf.
“Kein Alkohol, Sie müssen fahren“, verneine ich. Er setzt ohne jeden weiteren Kommentar die Limoflasche an, der prickelnde Inhalt gluckerte seinen Hals hinunter. Juri nimmt sich die zweite Flasche und tut es ihm gleich. Lautstarke Rülpser folgen. Angewidert drehe ich mich weg, packe meine Pflanzen zusammen und bedeute Juri, meine zarten Heiligtümer zu meinem Auto hinunterzutragen.
“Der weiße Golf, vor dem Lieferwagen“, weise ich ihn an und hänge meinen Autoschlüssel an einen freien Finger. Rasch leert sich die Wohnung. Kiste um Kiste verschwindet. Schließlich bitte ich das Packduo, meinen Fernseher, dessen Anschlüsse zwischenzeitlich ordentlich beschriftet und die Kabel in einer Plastiktüte verpackt daran kleben, hinunterzuschaffen. Vorsichtig wickeln sie die Decke drum herum, die ich ihnen hinhalte. Minuten später folgt meine wertvolle Stereoanlage. Ich schließe vorerst mein altes Domizil ab. Der Laster ist randvoll. Meinen Computer, den Miro und Juri eben noch hinuntertragen, findet in meinen Wagen vor dem Vordersitz Platz, nachdem ein Pflanzenkarton auf Juris Schoß landet. Ich notiere vorsorglich für die beiden meine neue Adresse und bitte sie, am besten hinter mir herzufahren. In meinem bisherigen Heimatstädtchen am See blinken zwei gelbe Ampeln, bevor sie auf Rot umschalten. Das orangefarbene Leuchten der Lieferwagenplane bleibt brav heckwärts. Wir biegen auf die Hauptstraße ein und fahren eine Viertelstunde geradeaus. Weg vom See. Mein Herz schmerzt. Der Abschiedsgedanke an mein Nest lässt meine Augen feucht werden. In meinem Jammer drücke ich aufs Gas. Mein Cabrio fliegt, alle Geschwindigkeitsbegrenzungen überschreitend, über die Umgehungsstraße. Unterhalb des Tettnanger Schlosses setze ich den Blinker, brause die Auffahrt hinauf. Blinklicht links. Hundert Meter bergan schlage ich das Lenkrad ein und fetze in die Seitenstraße hinein, in der ich seit Wochen verzweifelt versuche, meine neue Heimat zu finden.
Vor dem Zweifamilienhaus stoppe ich, fahre mir wie nach einem Traum über die Augen. Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel. Wo ist der Lieferwagen? Keine Spur von dem orangefarbenen Gefährt. Ohne dass ich es bemerkte, ist er verschwunden.
Das darf nicht wahr sein«, brumme ich vor mich hin. „Wo sind die nur abgeblieben?“ Ungeduldiges Warten. Die nächsten zehn Minuten verrinnen im Zeitlupentempo. Eine Viertelstunde später klopfen meine Fingerspitzen nervös auf dem Ziffernblatt meiner Armbanduhr herum, auch die Sekunden ticken nicht schneller.
„Was wenn………..?“ Urplötzlich fallen mir die Schuppen von den Augen. Miros allererste Frage am Morgen, steht vor meinem Gesicht. Die Elektrogeräte wollte er zuerst einpacken ….. und dann? Entsetzen packt mich bei dem Gedanken, das die Gauner mit meinem Hab und Gut verschwunden sind. Nein, versuche ich mich zu beruhigen. Das darf nicht wahr sein. Ich habe die Adresse, habe eine Telefonnummer….., was mir unter Umständen nicht weiter hilft. Erst vor einem halben Jahr verfasste ich einen Artikel. Damals reiste eine listige Diebesbande im Bodenseekreis auf genau dieselbe Tour………………..
Ich Blödmann, wettere ich mit mir. „Wie kann man so doof sein. Du bist ich ein paar Schlitzohren aufgesessen. Sparen wie die Schwaben. So ein verdammter Mist. Das hast du nun davon.“
Der Fernseher und die Stereoanlage, teure Stücke sicher. Dennoch lassen sie sich ersetzen, auch wenn es wehtut.
»Ich Hornochse weise das Gesindel höchst selbst an, zuerst meine heißgeliebten Bücherkisten aufzuladen.« Mein ganzes Leben steckt in diesen Kisten. Meine Diplomarbeit, meine Ordner mit unzähligen Texten und Berichten meiner beruflichen Laufbahn und …. Meine unersetzbaren Kontakt- und Adresslisten. Mein gesamtes privates papiernes Sammelsurium. Meine Fotobücher. Meine Lieblingsbücher, die nicht mehr beschafft werden können, weil sie nicht mehr zu haben sind. Alles ist weg. Weg aus reiner Blödheit.
Ich sitze auf der Treppenstufe zu meiner Wohnung. Kann mich nach dem Schock nicht aufraffen, ein einziges Stück aus meinem Auto hinaufzutragen und tröste mich über den Verlust damit, dass sie zumindest meinen Computer nicht besitzen, denn der steht in meinem Golf. Wenigstens etwas. Ich begreife das Drama noch nicht.
Da ertönt ein krachendes Geräusch an der Einfahrt. „Gruß ans Getriebe“, mein lakonischer Gedanke. Es hupt. Eine penetrante Hupe. Ich blicke aus tränenumflorten Augen auf.....
... und lächele das schönste, da anmutigste, das befreiteste und glücklichste Lächeln meines Lebens. Miro klettert aus seinem orangefarbenen Lieferwagen, hebt seine Hand und winkt.
“Cabrio zu schnell. Lastwagen langsam fahren. Immer nur Achtzig, Frau. Weg finden allein. Keine Problem.“
Noch ist es fast Nacht. Nur in der Ferne hebt ein kläglicher Lichtstrahl den Schleier des neuen Morgen. Der
Fischer Dimitri lebt auf der griechischen Insel Lesbos, allein, seit seine Frau vor einem Jahr gestorben ist. Kinder, ein Nachfolger, blieb ihnen versagt.
Längst hat er das siebzigste Lebensjahr überschritten, doch sein Alter hindert ihn keineswegs, das farbverwitterte Fischerboot sicher aus dem Hafen hinaus zu lenken. Er dreht am Gashebel des
Außenbordmotors. Sogleich zerschneidet der Zweitakter die Stille, doch Dimitri steuert das Boot in jene dicken Nebelbänke, die ihn zwischen den Inseln verbergen. Die Motorengeräusche klingen nur
noch gedämpft. Das Gesicht des alten Mannes ist angespannt, als er versucht die Nebel zu durchdringen. Er sieht hinüber zum Kompass, lenkt weiter nach rechts, bis die Nadel auf Süd-Ost stehen
bleibt. Das Blut jagt durch die Adern. Es ist wie immer, wenn er aufmerksam lauschend die ’Teresa’ zwischen die vorgelagerten Inseln auf die türkische Küste zu steuert.
Die Fahrten waren nie ungefährlich. Allerdings ist jetzt, da ständig Kriegsflüchtlinge den Weg übers Meer suchen, mit den Küstenpatrouillen nicht gut Kirschen essen. Wen auch immer sie
aufgreifen, er steht automatisch unter dem Verdacht eines Menschenschmugglers. Nichts liegt Dimitri ferner, als Menschen zu schmuggeln. Es geht letztendlich nur um ihn selbst. Resolut wischt er
den ungebetenen Gedanken zur Seite. Es wird schon gut gehen.
An seinem Fischerboot blättert längst die Farbe ab. Die undichten Stellen nehmen im selben Maß zu, wie Dimitris Körper gebrechlicher wird. Das Haar unter der Wollmütze schimmert silbergrau, die Zähne stark lückenhaft und ohne Stock fällt ihm das Gehen zusehends schwerer. Da den einstigen Fischer rheumatische Knoten vor allem in den Händen peinigen, sind die nasskalten Nebel pures Gift. Dennoch - die alljährliche Überfahrt ohne Visa, in die Heimat seiner Vorfahren, hat für den Alten seinen Reiz keineswegs verloren. Im Gegenteil, zwischen seinen Mundwinkeln sitzt ein perfides Lächeln und es ist ihm deutlich anzusehen, wie sehr ihn das Husarenstück beflügelt, um die Küstenwache auszutricksen.
Es ist ungewöhnlich ruhig an diesem Morgen. Selbst das lärmende Geschrei der allgegenwärtigen Seemöwen ist verstummt. Nur vor der Bugwelle teilt sich schmatzend das Meer. Von weither dringen gedämpfte Motorengeräusche herüber. Er lauscht, legt die Hand ans Ohr, um besser zu hören. Doch es sind nur weitere Fischerboote, die aufs Meer hinaus fahren, um im Morgengrauen die gefüllten Netze einzuholen. Plötzlich nähert sich von links ein sattes Brummen. Dimitri kennt dieses Geräusch nur zu gut, die Küstenwache. Er ändert den Kurs nur geringfügig, umkreist die vor ihm liegende Insel kleine Insel und dreht bei. Sein Motor verstummt. Sie suchen nach ihm. Er hält den Atem an. Doch die schmale mondsichelförmige Bucht und die Nebelfetzen machen sein Boot unsichtbar. Nach einer gefühlten Stunde suchen sie das Weite. Glück gehabt. Dennoch wartet Dimitri bis das Brummen der starken Innenbordmotoren verklungen ist. Jetzt erst löst sich seine aufmerksame Mimik, ein erleichtertes Lächeln schiebt sich auf die Lippen. Es dauert nicht mehr lange, da hält er die Bugspitze auf eine versteckt gelegene Bucht seitlich von Ayvlik zu. Unentdeckt, wieder einmal.
Immer schneller steigt jetzt das junge Tageslicht grauviolett an der Kimmung auf. Schwerfällig klettert der
Alte über die Bordkante, nachdem er zuvor seine Kleider in einem wasserdichten Beutel verstaut hat. Mit nackten Beinen steht er im eiskalten Wasser, dreht das Boot und schiebt es, so wie er es
seit langem tut, unter eine ins Wasser überhängende Baumkrone. Sicher ist sicher. An der Bordwand befinden sich griechische Schriftzeichen. Unerwünschte Boote an der hiesigen Küste.
Dimitri keucht, seine gekrümmten Hände schmerzen. Dennoch bündelt er alle Kraft, die er aufbieten kann, bis das Blattwerk die blauweiße Farbe gänzlich zudeckt. Schweißgebadet richtet er sich auf.
Sein Atem – stoßweise, lehnt er am Bug und wartet. Dann erst zieht er den Stock mit dem Silberbeschlag am Knauf, den er zuvor auf die Bugplatte legte, zu sich. Den wasserdichten Beutel
klemmt er unter den Arm und ergreift den bereitliegenden Blumenstrauß.
Gebeugt und erschöpft watet er zum Strand, ruht sich auf einem Felsbrocken aus und entleert den Beutel. Es fällt ihm unendlich schwer, in die schwarze Hose hineinzuschlüpfen. Noch
beschwerlicher allerdings ist es für den Alten, Socken anzuziehen, die Halbschuhe zu binden. Wieder ist er atemlos. Eine Verschnaufpause später beugt er sich vor, schiebt den Beutel unter eine
Felsritze. Er spürt, wie seine alten Knochen klagen, als er vom Stein gleitet. Den Blumenstrauß in der linken Hand schlurft er, auf den Stock gestützt, schwerfällig den steilen Weg hinauf zur
Straße.
Eine schief zusammengenagelte Bank an der Busstrecke verschafft ihm die erneut notwendige Erholungspause. Mit dem Taschentuch wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Das Licht des Tages erhellt das hinter ihm liegende Wäldchen, die Nebel lichten sich. Kurze Zeit später hört er das Klappern des Kleinbusses, den man hier [1]Dolmuş nennt. Während der Fahrer ihn über die erhöhten Trittstufen hinaufzieht, erinnert sich Dimitri, wie seine türkischstämmige Großmutter im einst erklärte, dass das Wort ’dolmuş’ voll bedeutet. Die meiste Zeit trifft dies wohl zu, allerdings nicht an diesem sehr frühen Morgen. Während er hinter dem Fahrer in den Sitz gleitet und der Bus über die Straße weiterfährt, hört er die längst Verstorbene flüstern: »Steigst du in der Türkei in einen Bus, erfährst du die Stimmung des Volkes. Ach, würden die Politiker nur gelegentlich mitfahren!«
Dimitri schließt die Augen, denn die Fahrt wird fast zwei Stunden dauern. Kurz danach ist jedoch an ein
Morgenschläfchen nicht mehr zu denken. Der hart gefederte Bus ist auf eine schaukelnde Staubpiste abgebogen.
In Ermanglung anderer Fahrgäste nimmt Dimitri den Busfahrer in Augenschein. Ein dicker, buschiger Schnauzer über den Lippen prägt das faltige Gesicht. Nachtschwarz glimmen ihm seine Augen im
Rückspiegel entgegen. Bestimmt fährt der Buslenker lebenslang solch einen Kleinbus, überlegt Dimitri. Der macht auf ihn nämlich den Eindruck, er fühle
sich als der uneingeschränkte Herrscher über die asphaltierten Straßen, oder wie hier, die ausgewaschenen Nebenwege. In seiner bewegten Mimik lässt es sich lesen, wie in einem Buch. In dem einen
Moment, tiefe Verachtung. Die Augenbrauen finster zusammengekniffen, die Mundwinkel weit heruntergezogen. Momente später richtet er den Oberkörper auf, drückt mit seiner aufrechten Haltung
wortlosen Vorwurf aus. Im Momenten, wenn er den Bus in zu enge Haarnadelkurven lenkt, sie im steilen Winkel an fährt.
Als er die asphaltierte Hauptstraße erreicht, biegt der Fahrer nach rechts ab, Bergama, so das Richtungsschild. Menschen warten am Straßenrad. Der
Fahrer hupt, hält, lässt sie einsteigen. Kaum fällt die Tür ins Schloss, drückt er aufs Gaspedal und das Kleingeld wandert durch unzählige Hände bis zu ihm.
Dimitri muss eingeschlafen sein. Mehr als eine Stunde zeigt ihm der Blick auf die Uhr. Inzwischen quält sich der klapprige Bus über eine Serpentinenstraße bergauf. Die Steigung scheint endlose. Der altersschwache Motor rasselt. Hin und wieder scheint es, als würde er jeden Moment aussetzen. Das qualvolle Stöhnen setzt sich in den Ohren der Mitreisenden fest. Atemlos lauschen die Fahrgäste auf die ächzenden Geräusche, verstummen für eine Weile sogar in ihren Gesprächen. Japsend erklimmt das Fahrzeug die allerletzte Hürde. Der Anstieg ist beendet. Unvermittelt setzt der Redefluss wieder ein. Es fehlt, das triumphierende Geheul des Fahrers, der krachend einen höheren Gang einlegt. In seiner Mimik widerspiegelt sich das Glück. Ein Glück, das sich langsam ausdehnt, den angestrengten Gesichtsausdruck bis in den letzten Winkel hinein entspannt. Fröhliche Pfeiftöne auf den Lippen steuert er nun seinen Gefährten in die gegengleichen engen Serpentinen abwärts. Heiter ertönt vor jeder Kurve ein munteres Hupkonzert. Furchtlos legt er den Bus in die engen Kehren. Ob er wohl täglich auf diese Art und Weise mit seinem Schicksalsgefährten leidet? Dimitri hat Mitleid mit dem geschundenen Motor und fragt sich, wann er endgültig den Geist aufgeben wird? Den Busfahrer interessieren diese Überlegungen im Moment sicherlich nicht. Die Tortur der Anstiege ist, für den Moment zumindest, vorüber. Die Erhebungen werden niedriger. Sichtlich zufrieden thront er auf dem Fahrersitz. Ein blaues Auge schwingt am Rückspiegel. Ab und an belohnt er mit einem leichten Tätscheln seinen blauweißen Kameraden. Dimitri kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Sie erreichen bald die Kreuzung vor [2]Altinova. Er verlangsamt die Fahrt. Dimitri sieht aus dem Fenster. Eine Frau hebt die Hand. Bekleidet mit
einem bodenlangen Rock und einer bunten Bluse. Ihre Haare bedeckt von mit einem passenden Tuch mit weißem Blütendruck, eingefasst mit einer handgearbeiteten Häkelborte. ’Wie Großmutter. Auf
den Bildern ihrer Jugend’, überlegt Dimitri.
Der Fahrer begrüßt sie mit einem herzlichen »Merhaba[3], Fatma hanim.[4]» Er nimmt ihr den schweren Korb voller Tomaten ab, schiebt ihn in eine Ausbuchtung neben sich. Sie setzt sich
auf die andere Seite, nah zu Dimitri und doch durch den Gang getrennt. Der Busfahrer hält, wo jemand wartet oder aussteigen will. Haltestellen gibt es nicht. Bisweilen stapelt er Kisten mit Obst,
Säcke mit Oliven oder Hühnerkäfige in die Freiflächen, um sie ein paar Kilometer später vor einem Geschäft oder einem Lokal abzuladen.
Unter einer gekrümmten Kiefer wartet ein alter Mann, auf den Krückstock gestützt, mit einer gehäkelten Gebetskappe auf dem Haupt. Zwei junge Fahrgäste hieven ihn in den Bus.
Dimitri jedoch beobachtet unauffällig die Frau, die der Fahrer zuvor begrüßte. ’Großmutter in jung’, sinniert er erneut und schüttelt den Kopf. Da bemerkt er, dass auch sie immer wieder
verstohlen herüberschaut. Seine Mundwinkel heben sich an, Heiterkeit schleicht in sein Gesicht. Nicht er, der alte Mann, ist von Interesse. Ihr Blick ruht auf den Blumen, die in seinem Schoß
liegen. Die beiden wechseln kein Wort und doch verbindet sie der Strauß aus Olivenzweigen und weißen Rosen auf eine eigene Art und Weise.
Es ist Zeit auszusteigen. Dimitris Augen beginnen zu leuchten. Er klopft dem Fahrer auf die Schulter. Bittet
ihn, an der Mauer mit dem Eisengittertor, das bereits in seinem Blickfeld auftaucht, anzuhalten. Ein junger Mann steht mit ihm auf, als der Bus die Fahrt verlangsamt. Bevor er seine Hilfe beim
Aussteigen dankbar in Anspruch nimmt, legt Dimitri die Blumen entschlossen in den Schoß von Fatma.
»Mögen Sie viel Freude an den Blumen haben, Fatma hanim. Meine Teresa wird sich freuen, dass ich sie Ihnen gegeben habe. Ich werde es ihr gleich erzählen.«
Nachtschwarze Augen fixieren den fremden alten Mann. Ein Staunen liegt in ihrem Gesicht. Bevor noch Wort über ihre Lippen kommt, hat Dimitri die Hand des Helfers ergriffen, ist ausgestiegen.
Lächelnd hebt er die Hand zum Abschied. Dann dreht er sich um. Der Grauhaarige spürt ihren Blick in seinem Rücken. Auf den Stock gestützt greift nach der Klinke am Friedhofstor, schlurft mit
müden Beinen zwischen den Grabreihen entlang, da ertönt der letzte krachende Gangwechsel.
Dimitri ist allein. Er steuert die meerseits gelegene Begrenzungsmauer an. Geht über den Kiesweg hin zu
dem Grab seiner Großmutter. Ihretwegen ist zuerst sein Vater und später er über die Grenze gegangen. In den ersten Novembertagen spürt er den Drang, mit Großmutter Teresa Zwiesprache zu halten.
Seit seinen späten Kindertagen besucht er die Mutter seines Vaters regelmäßig auf diese Art und Weise. Sie hat sich1923 dem Bevölkerungsaustausch verweigert, sich in ihrer Kate zwischen dem
Olivengarten versteckt. Ihren Sohn und seine Familie aber, die schickte sie hinüber nach Lesbos. Dimitri weiß gar nicht mehr, wann er zum ersten Mal auf dem Boot mit zu ihr fahren durfte. Nur
dass sie schon sehr alt gewesen war. Die greise Frau strahlte eine allesumschließende Liebe aus, eine Herzlichkeit, die ihn umschloss, wenn sie die Arme um ihn legte. Sie liebte die Arbeit im
Olivengarten und die weißen Rosen, die an der Mauer zu ihrem brüchigen Haus wuchsen. Wie oft sind Vater und ich das Risiko eingegangen, um die Lebende und später ihr Grab zu besuchen. Ich müsste
nachrechnen, grübelt er, doch eigentlich, ist es nicht bedeutsam. Er bleibt vor ihrer Grabstätte stehen. Auf der Marmorplatte ihr Name. Ein schlichtes Teresa und die Jahreszahlen von Geburt und
Tod. Längst sind die Blumen vom vergangen Jahr verwelkt. Niemand hat sie fortgenommen. Er leert das Gefäß und stellt es zurück auf seinen Platz. Mit der Hand wischt er die Grabplatte sauber. Die
gebückte Haltung fällt ihm schwer. Ächzend richtet er sich auf.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag Großmutter. Verzeih, dass ich heute ohne Blumen zu dir komme. Ich habe deine Lieblingsblumen einer hübschen Frau geschenkt. Weißt du, sie erinnerte mich
sehr an dich, obwohl wir nicht einmal miteinander sprachen. Aber ihre Augen glänzten, beim Anblick des Blumenstraußes wie deine.«
Der alte Mann versinkt in seiner Zwiesprache, betet. Nach geraumer Zeit wirft er einen sehnsüchtigen Blick hinaus aufs Meer. Längst haben sich die Nebelbänke im Licht der warmen spätherbstlichen
Sonnenstrahlen aufgelöst. In der türkisblauen zeichnet ein Schimmer in der Ferne die charakteristischen Umrisse der Insel Lesbos ab.
»Es ist schlimm geworden«, klagt er. «Zwischen dem Festland hier und Lesbos stehen nach wie vor die politischen Mächte. Sie sind nie mit dem Dolmuş gefahren. Grossmutter, werden sie
irgendwann endlich lernen, auf die Menschen zu hören?«
Seine Augen folgen einer Yacht. Ihr Bug zieht schäumende Spuren durch das Blau. Dahinter scheinen die Segelboote geradezu zu schweben. Mit Segeln, in der Herbstbrise gebläht.
«In Syrien ist Krieg. Städte liegen in Schutt und Asche. Die Menschen flüchten in Scharen über das Meer, ihr Ziel - Europa. Sie verschärfen die Patrouilleneinsätze. Illegale wie ich, werden schonungslos verfolgt. Das Glück war immer bei mir, auch heute. Nie haben sie mich geschnappt. Zu gut waren meine Ohren, das Boot, die ’Teresa’, wendig und schnell. Die Inseln, zwischen denen wir hindurch müssen, vertraut.“
Dimitri legt seine Hand auf den warmen Marmor. „Ich komme zum letzten Mal, Großmutter Teresa. Mein Boot und ich, wir sind zu alt geworden.«