Kurzgeschichten.

Kurze Geschichten - Short Stories

Komprimiert, beschränken sie sich auf das Wesentlichste. Sie hinterlassen Eindrücke und schenken der eigenen Fantasie ausreichend Freiraum.

 

Schreiben Sie mir, wenn ihnen ein Text besonders gefallen hat.

 

Pralinchen´s Rache

 

Im letzten Moment war die kleine Herz-Praline dem gierigen Schlund entkommen. Atemlos, zitternd lag sie nun in ihrer Pralinenschachtel, eingehüllt in Goldpapier. Der Schrecken saß ihr gehörig in der Cremefüllung. Da klopfte jemand an ihre Schachtel. Ihr Herz stand still, bis sie erleichtert, ihren Freund Snickers rufen hörte.

"Pralinchen, Liebes, wo warst du nur so lange?"

„Schnell, geh nach hinten", japste sie und hüpfte aus der Schachtel. Raschelnd schob sie ihren Freund in die hinterste Schrankecke. Hier sollten sie vorerst in Sicherheit sein. Pralines Aufregung saß noch so tief in der Walnuss. Dabei schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sich seit dem Jahreswechsel in diesem Schrank alles, aber gar alles verändert hatte. Keiner war mehr sicher. Nicht einmal sie, der winzigste Winzling.

 

Früher waren ihre süßen Verwandten in den allermeisten Fällen an Altersschwäche gestorben. Wenn sie quitschfidel in diesem Schrank angekommen waren, hatten sie schnell bemerkt, dass nur die Salzstangen ab und an um ihr Leben bangen mussten. Im Chor sangen sie stundenlang von ihrem Glück, hier gelandet zu sein.

Denn nur gelegentlich hatte eine schmale Hand in den Schrank gegriffen, ein süßes Stück nach dem anderen herausgenommen und auf einem Silbertablett drapiert. Liebevoll hatte die junge Frau ihren Schokoladenvorrat betrachtet. Dabei hatten ihre blassblauen Augen vor Glück gestrahlt, wenn sie jede einzelne Praline Stück für Stück mit einem Seufzer an ihren Platz zurückgelegt hatte.

Erst wenn sich ein Teil grau färbte, legte sie den Schoko-Patienten in eine Quarantäneschachtel. Um ihn kümmerte sie sich in den folgenden Wochen ganz besonders. Erst wenn das Schokoladenstück endgültig Schimmel angesetzt hatte, nahm sie den Kranken ein letztes Mal heraus, streichelte ihn und trug ihn für immer fort. Die alte Quarantäneschachtel verschwand und wurde gegen eine neue Box ausgetauscht.

 

Seit dem Neujahrjahrtag aber griff Tag für Tag eine raue Männerhand in den bisher sicheren Schrank. Das Schokoladenmonster, zu dem die Hand gehörte, warf alles wahllos durcheinander und ergriff, was immer es zwischen seine dicken Finger bekam. Die leeren Tüten häuften sich und dennoch sorgte das Monster täglich dafür, dass das bisher harmonische Plätzchen zum unsichersten Platz in Pralines bisheriger Welt mutierte.

 

Vor wenigen Minuten erst hatte die Monsterhand in den Schrank gegriffen, wahllos zugeschnappt und hatte neben einem Duplo auch die kleine Lindt-Praline aus ihrer Schachtel gezerrt.

Zusammen mit dem Schokoriegel war sie bereits dem Rachen des Schokoladenmonsters entgegengeschwebt.  Entsetzt musste sie zusehen, wie der Gierschlund sich geöffnet hatte, ein Stück von dem Riegel zwischen seinen scharfen Zacken zermalmte. Es hatte das Maul kurz nur geschlossen, solange es kaute, und dann den übriggebliebenen Rest hinterhergeworfen. Sekunden später hatte das Monster Pralinchen ausgepackt und in die Höhe gehoben. Es hing bereits über seinem Schlund.  Sie hatte verschmierte Zacken erkannt und tief in den feuerroten Schlund geschaut, an dem noch Duplos Schokofarbe klebte. Sie erschauerte. Gleich würde es endgültig aus sein mit ihr, aus und vorbei. Wie ihr Freund Duplo würde sie zerquetscht in die Tiefe des Hohlraumes abstürzen müssen. Sie spürte schon, wie sich der Druck seiner Finger löste, da ertönte der schrille Aufschrei ihrer Retterin.

„Nicht meine Herz-Praline! Die nicht!“

Die Frau, die ihre Praline seit Monaten nur zärtlich angeschaut und dann wieder in den Schrank zurückgelegt hatte, entriss ihren Liebling dem Schokomonster. Vorsichtig hatte sie ihr Pralinchen in die Hand genommen, das Herzchen liebevoll angesehen, in Goldpapier eingewickelt und dann zärtlich in den Schrank zurückgelegt. Bevor die Türe sich hinter ihr schloss, hatte das Herzchen noch Sonderbares gehört.

„Lass meine kleine Lindt-Praline in Ruhe, Siegbert“, hatte sie mit ihm geschimpft. „Die gehört mir und nur mir allein. Ich habe dir genügend Vorrat für die nächsten Wochen eingekauft, aber - du teile dir deine Naschereien wenigstens etwas ein.“

„Ach, mach doch keinen solchen Aufstand. Dann füllen wir den Schrank halt wieder“, murrte er.

„Mach dir das nicht zu einfach, mein Lieber. Wenn das Corona-Virus weiter so wütet, kannst du dir deinen Nachschub bald im Internet ausdrucken und dann anschauen, anstatt die Schokolade in dich hineinzustopfen,“ lachte sie ihn aus. Dann aber hatte die geschlossene Tür die Unterhaltung unterbrochen.

Fräulein Praline gingen die Worte ihrer Retterin nicht aus dem Kopf. Ein Virus wütete im Leben der Menschen und ausgerechnet jetzt musste dieses verfressene Schokomonster bei ihr eingezogen sein. Diese Männerhand, dieses Monster, das glich einem lebensgefährlichen Virus oder einer Bakterie, die sich nahm, was ihr gerade in die Pfoten kam. Die Überlebenschancen im Schrank hatten sich dadurch in den letzten Tagen dramatisch verändert. Bis zum heutigen Tag hatte kleine Lindt-Praline, wirklich Glück gehabt. Jetzt war sie nur noch dankbar, dass sie immer noch der erklärte Liebling der Frauenhand gewesen war, selbst wenn ihr Aussehen längst nicht mehr taufrisch glänzte. Aber irgendwie hatte sie an einen Narren an ihr, dem Winzling gefressen. Dabei wies ihre Figur bereits die eine oder andere Delle auf, was darauf hindeutete, dass ihr Lebenszyklus bald in der Quarantäneschachtel enden musste.

Jetzt aber streckte die Hand nach ihrem Freund aus und umfasste ihn zärtlich. Leise knisterte seine Verpackung. Snickers war erst vor zwei Tagen mit seiner Familie in einer riesigen Tüte angekommen und sie hatten sich sofort ineinander verliebt. Um zwei seiner Brüder, die bereits am ersten Tag nach ihrer Ankunft im Maul des Schokomonsters sterben mussten, hatten sie gemeinsam getrauert. Verzweifelt hatte seine Familie nach dieser Fressattacke ein geschützteres Versteck im Schrank gesucht. Mit Hilfe von Snickers Familie hatte sie sie die Lindt-Pralinen-Schachtel und die eigene Tüte hinter ein Glas mit Uralt-Bonbons gezerrt. Doch selbst dort hatte das Monster heute die kleine Lindt-Praline gefunden.

Endlich hatte sich ihr Schrecken gelegt und sie schob mit Snickers Hilfe zwei alte Tafeln Bitterschokolade, die im Laufe der Zeit hier eine Heimat gefunden hatten, vor das Bonbonglas. Eine ideale Tarnung, dachte sie, denn das Schokomonster würde sich kaum für Alt und Bitter interessieren. Allerdings war dahinter nur sehr wenig Platz. Für Snickers Familie würde es zu eng werden, das Glas allein bot zu wenig Schutz und hinter den Bittertafeln war nur Platz für sie beide.

Ihr Freund wagte den gefährlichen Weg zur Tüte der Familie zurück, um von ihnen Abschied zu nehmen. Denn niemand konnte wissen, wann sich die Tür wieder öffnete. Ungeduldig und mit klopfendem Herzen wartete Pralinchen, bis er unversehrt zu ihr zurückkehrte. Blieben sie bis zuletzt übrig, dann war es ihnen vor dem Tod vielleicht doch vergönnt, diese Tage gemeinsam zu verbringen.

Innerhalb kürzester Zeit leerte sich der Schrank. Snickers und Pralinchen konnten das Drama, das das Schokoladenmonster anrichtete kaum mehr mit ansehen und sie ergriffen die Initiative. Vor lauter Kummer hatte Pralinchens Schokoladenkleid inzwischen den ersten Schimmel angesetzt. Da kam ihr die Idee, wie sie die übriggebliebenen Schokoladenfreunde und vor allem Snickers und den Rest seiner Familie retten konnte. Das Monster musste überlistet werden. Sie wollte es mit ihrem Schimmelvirus endgültig außer Gefecht setzen.

Da öffnete sich die Tür und das Monster schlug wieder einmal gefräßig zu. Die Hand schnappte sich die letzten Knoppers und Snickers wurde bei seinem Anblick kreidebleich. Auch der Magen seiner Freundin verkrampfte sich.

Meine Güte, schoss es ihr durch den Kopf. Dieser Vielfraß rafft alle Freunde dahin. Traurig schmiegte sie sich an Snickers und weinte. So durfte es nicht mehr weiter gehen. Sie musste das ändern. Beherzt wischte sie sich die Tränen aus den Augen und bat Snickers, ihr zu helfen, den Plan umzusetzen. Sie konnte einfach nicht länger tatenlos herumzusitzen. Gemeinsam würden sie dem Monster etwas vorsetzen, das ihm ein für alle Mal den Appetit auf Süßes verderben würde.

Weil Pralinchen täglich mehr Schimmel ansetzte, gelang es ihr, den zuerst entsetzten Snickers davon zu überzeugen, dass es ihr Ernst war, sich für den Frieden im Schrank zu opfern. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Der Schimmel würde überhandnehmen. Ihr Sterben war vorprogrammiert.

Sie war bereits zwei Jahre alt, für eine Schokopraline eine kleine Ewigkeit. Sie musste und wollte dem Schokomonster das grausame Fressen mit ihrem letzten Atemzug heimzahlen, um so ihre Freunde zu retten.

Zuerst kratzten sie ihren Schimmel ab und polsterte durch eine kleine Öffnung die schwindende Cremefüllung auf. Snickers half ihr, sich aufwendig zu polieren und herauszuputzen. Er strich das Goldpapier sorgfältig glatt und wickelte es zärtlich um sein Lindt-Pralinchens. Er küsste sie ein letztes Mal, bevor er das Papier um sie schloss. Ohne zu ihm zurückzuschauen kugelte sie sich aus dem Versteck, legte sich ganz nach vorne an die Tür und jetzt erst winkte sie Snickers noch einmal zu. Die Minuten verstrichen. Ihr kamen erste Zweifel, ob das wirklich eine so gute Idee war, da fiel Licht durch die sich öffnende Schranktüre.

Am liebsten wäre sie wieder in ihrer Schachtel verschwunden, aber es war zu spät. Nur der Gedanke, dass sich das Schokomonster vor Schmerz und Übelkeit gleich am Boden winden würde, bestätigte ihren längst gefassten Entschluss.

Noch bevor sie Snickers zublinzeln konnte, riss das Schokoladenmonster ihr das Goldpapier vom Leib. Sein gieriger Rachen öffnete sich und Praline rutschte abwärts. Ihr letzter Gedanke galt ihrem Snickers und den noch übriggebliebenen Schokoladenfreunden, die dank ihrem Opfer lange Zeit vor dem Monster Ruhe haben würden.

 

 

Brief an einen Freund

… nur ein Glas Wein


Manchmal, wenn ich mir ein Viertel Roten einschenke, drängt es meine Gedanken zurück an den kleinen Tisch unter den Arkaden. Den Tisch, an dem ich mit dir gesessen bin, während die anderen Kurpatienten dem Sommermärchen Fußball frönten. Wir waren keineswegs ein Liebespaar, bei Weitem nicht und dennoch ... du hast meine Seele berührt. Eine Sternschnuppe warst du. "Heute Stern und morgen schnuppe". Wie hat dich dieser Ausdruck amüsiert. Ich weiß trotzdem nicht, wie es geschehen ist, dass du mir selbst nach Jahren noch immer sehr nah bist. Auch jetzt, da es dich nicht mehr auf unserer Erde gibt, bin ich mir sicher, dass auch du es nicht lassen wirst können, von einer Wolke aus zu mir herunterzuschauen.
Du nickst mir zu, nicht wahr? Wenn ich das Weinglas an die Lippen setze und den ersten Schluck wie einen Bissen in meinem Mund hin und her bewege, dann spüre ich deine Nähe. Das Aroma kitzelt meinen Gaumen, Licht zaubert ein funkelndes Rot ins Glas, bis ich glaube, dein liebevolles, bärtiges Teddybärgesicht wieder vor mir zu sehen.
Ich vermisse dich, den exzellenten Gesprächspartner, so wie du einer gewesen bist. Einer der mir zugehört hat, meinen Worten lauschte und sie in sich aufnahm. Der die Finger sacht über meine Hand legte, wenn es eine traurige Geschichte gewesen ist, die ich erzählt habe. Du warst einer, der mit den Augen blinzelte und herzhaft loslachte, wenn ich dir etwas Lustiges erzählt habe. Ich vermisse deinen liebenswerten niederbayrischen Dialekt, der den Trinkspruch begleitet hat, wenn wir die Gläser ins Kerzenlicht gehoben  haben und du von der Familie geträumt hast, von deiner geliebten Frau und von deinen Töchtern.
Ich entbehre dich, lieber behäbiger Brummbär, weil dich das Asthma so plagte, dass du mühsam überredet werden musstest, die Kurklinik für ein paar Schritte zu verlassen. Jeden Tag ein Stück weiter hinaus habe ich dich gelotst. Und du hast meine Kraft gespürt, die ich dir für diese besonderen Momente leihen durfte. Wie stolz bist du gewesen, als wir zum ersten Mal die nur zweihundert Meter entfernte Eisdiele erreicht haben, wenige Ausflüge später die Weinstube, in der wir so gerne geplauscht haben. Ich erinnere mich, wie du auf dem Nachhauseweg in der St. Aigidi Kapelle eine Rast einlegt hast, um Kerzen für unsere Lieben zu Hause anzündeten und wie die Lichter einträchtig nebeneinander gebrannt haben.
Nach gemeinsamen Wochen in der Reha sind wir auseinander, gegangen doch unsere besondere Freundschaft hat das Leben überdauert .. und sie tut es sogar über deinen Tod hinaus.

Inzwischen gäbe es noch so vieles zu sagen, das es wert gewesen wäre, mit dir zu teilen.
Heute sitze ich wieder vor einem Glas Rotwein und ich denke an dich und die verpassten Gelegenheiten, die durch das Verschieben unserer Besuche ungenutzt verstrichen sind.

 

 

... Prost, alter Freund.

Nebelschwaden am See


Nebelschwaden ziehen über den See. Sie kriechen über die Uferböschung dem Fachwerkhäuschen entgegen, das die neue Besitzerin Gerlinde Singer liebevoll »Künstlerklause« nennt. Noch sitzt die schlanke Mittvierzigerin im Garten auf der verwitterten Bank neben dem Rosenbogen. Sie prostet mit dem Sektglas in der Hand den Nebelfetzen zu, die ihr inzwischen den freien Blick auf das Blau des Bodensees verwehren. »Prost, Nebelgeister!« Fröstelnd steht sie auf und dreht dem dichter werdenden Grau den Rücken zu. Wenig später öffnet sie zu ihrem Häuschen. Die Tür, knarzt, sie ächzt dringend nach einem Tropfen Öl. Gerlinde tritt auf knarrend Holzdielen und schließt das Nebelgespenst hinter sich aus.
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Die Märzfee


Eilig saust die Märzfee über die Wiesen am Rand des Bodensees und zieht die Morgenröte wie einen Schleier hinter sich her. Ganz außer Atem strebt sie ihrem Ziel entgegen, weil sie beinahe den allerersten März-Frühlingstag verschlafen hat. Doch nun ist sie gerade noch rechtzeitig angekommen. Sie breitet die Arme weit aus und umschlingt die Felder, Wiesen und Wälder, die Gärten und Parks mit einem wärmenden und duftenden Umhang und beginnt, während die Morgenröte das Land in ihrem roten Schimmer überzieht, ihr Lied zu singen.
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Ein Unglück kommt selten allein


Umzugstag. Mein Teewasser brodelt. Verflixt, zu lange gewartet, schimpfe ich mit mir und spurte ins Badezimmer. Die Uhr läuft unbarmherzig. Ich begnüge mich mit einer Katzenwäsche. Kaltes Wasser ins Gesicht, abtrocknen, Faltencreme hinterher. Soll sie doch meine Falten ausbügeln, die in letzter Zeit zahlreich über meine schlaffe Haut kriechen. Die zahnlose Bürste streicht durch meine strähnig herabhängenden dunklen Haare. Eine Neue wäre kein Luxus überlege ich, während der gleichzeitigen Betrachtung meines langen Zinken, der mir knallrot aus dem Spiegel entgegen leuchtet. Eine Rotznase. Die kann ich nicht gebrauche. Die fehlt mir zu meinem heutigen Unglück noch.
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Abschied

 

Noch ist es fast Nacht. Nur in der Ferne hebt ein kläglicher Lichtstrahl den Schleier des neuen Morgen. Der Fischer Dimitri lebt auf der griechischen Insel Lesbos, allein, seit seine Frau vor einem Jahr gestorben ist. Kinder, ein Nachfolger, blieb ihnen versagt.
Längst hat er das siebzigste Lebensjahr überschritten, doch sein Alter hindert ihn keineswegs, das farbverwitterte Fischerboot sicher aus dem Hafen hinaus zu lenken. Er dreht am Gashebel des Außenbordmotors. Sogleich zerschneidet der Zweitakter die Stille, doch Dimitri steuert das Boot in jene dicken Nebelbänke, die ihn zwischen den Inseln verbergen. Die Motorengeräusche klingen nur noch gedämpft. Das Gesicht des alten Mannes ist angespannt, als er versucht die Nebel zu durchdringen. Er sieht hinüber zum Kompass, lenkt weiter nach rechts, bis die Nadel auf Süd-Ost stehen bleibt. Das Blut jagt durch die Adern. Es ist wie immer, wenn er aufmerksam lauschend die ’Teresa’ zwischen die vorgelagerten Inseln auf die türkische Küste zu steuert.
Die Fahrten waren nie ungefährlich. Allerdings ist jetzt, da ständig Kriegsflüchtlinge den Weg übers Meer suchen, mit den Küstenpatrouillen nicht gut Kirschen essen. Wen auch immer sie aufgreifen, er steht automatisch unter dem Verdacht eines Menschenschmugglers. Nichts liegt Dimitri ferner, als Menschen zu schmuggeln. Es geht letztendlich nur um ihn selbst. Resolut wischt er den ungebetenen Gedanken zur Seite. Es wird schon gut gehen.

 

An seinem Fischerboot blättert längst die Farbe ab. Die undichten Stellen nehmen im selben Maß zu, wie Dimitris Körper gebrechlicher wird. Das Haar unter der Wollmütze schimmert silbergrau, die Zähne stark lückenhaft und ohne Stock fällt ihm das Gehen zusehends schwerer. Da den einstigen Fischer rheumatische Knoten vor allem in den Händen peinigen, sind die nasskalten Nebel pures Gift. Dennoch - die alljährliche Überfahrt ohne Visa, in die Heimat seiner Vorfahren, hat für den Alten  seinen Reiz keineswegs verloren. Im Gegenteil, zwischen seinen Mundwinkeln sitzt ein perfides Lächeln und es ist ihm deutlich anzusehen, wie sehr ihn das Husarenstück beflügelt, um die Küstenwache auszutricksen.

 

Es ist ungewöhnlich ruhig an diesem Morgen. Selbst das lärmende Geschrei der allgegenwärtigen Seemöwen ist verstummt. Nur vor der Bugwelle teilt sich schmatzend das Meer. Von weither dringen gedämpfte Motorengeräusche herüber. Er lauscht, legt die Hand ans Ohr, um besser zu hören. Doch es sind nur weitere Fischerboote, die aufs Meer hinaus fahren, um im Morgengrauen die gefüllten Netze einzuholen. Plötzlich nähert sich von links ein sattes Brummen. Dimitri kennt dieses Geräusch nur zu gut, die Küstenwache. Er ändert den Kurs nur geringfügig, umkreist die vor ihm liegende Insel kleine Insel und dreht bei. Sein Motor verstummt.  Sie suchen nach ihm. Er hält den Atem an. Doch die schmale mondsichelförmige Bucht und die Nebelfetzen machen sein Boot unsichtbar. Nach einer gefühlten Stunde suchen sie das Weite. Glück gehabt. Dennoch wartet Dimitri bis das Brummen der starken Innenbordmotoren verklungen ist. Jetzt erst löst sich seine aufmerksame Mimik, ein erleichtertes Lächeln schiebt sich auf die Lippen. Es dauert nicht mehr lange, da hält er die Bugspitze auf eine versteckt gelegene Bucht seitlich von Ayvlik zu. Unentdeckt, wieder einmal.

 

Immer schneller steigt jetzt das junge Tageslicht grauviolett an der Kimmung auf. Schwerfällig klettert der Alte über die Bordkante, nachdem er zuvor seine Kleider in einem wasserdichten Beutel verstaut hat. Mit nackten Beinen steht er im eiskalten Wasser, dreht das Boot und schiebt es, so wie er es seit langem tut, unter eine ins Wasser überhängende Baumkrone. Sicher ist sicher. An der Bordwand befinden sich griechische Schriftzeichen. Unerwünschte Boote an der hiesigen Küste.
Dimitri keucht, seine gekrümmten Hände schmerzen. Dennoch bündelt er alle Kraft, die er aufbieten kann, bis das Blattwerk die blauweiße Farbe gänzlich zudeckt. Schweißgebadet richtet er sich auf. Sein Atem – stoßweise, lehnt er am Bug und wartet. Dann erst zieht er den Stock mit dem Silberbeschlag am Knauf, den er zuvor auf die Bugplatte legte, zu sich. Den wasserdichten Beutel  klemmt er unter den Arm und ergreift den bereitliegenden Blumenstrauß.
Gebeugt und erschöpft watet er zum Strand, ruht sich auf einem Felsbrocken aus und  entleert den Beutel. Es  fällt ihm unendlich schwer, in die schwarze Hose hineinzuschlüpfen. Noch beschwerlicher allerdings ist es für den Alten, Socken anzuziehen, die Halbschuhe zu binden. Wieder ist er atemlos. Eine Verschnaufpause später beugt er sich vor, schiebt den Beutel unter eine Felsritze. Er spürt, wie seine alten Knochen klagen, als er vom Stein gleitet. Den Blumenstrauß in der linken Hand schlurft er, auf den Stock gestützt, schwerfällig den steilen Weg hinauf zur Straße.

 

Eine schief zusammengenagelte Bank an der Busstrecke verschafft ihm die erneut notwendige Erholungspause. Mit dem Taschentuch wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Das Licht des Tages erhellt das hinter ihm liegende Wäldchen, die Nebel lichten sich. Kurze Zeit später hört er das Klappern des Kleinbusses, den man hier [1]Dolmuş nennt. Während der Fahrer ihn über die erhöhten Trittstufen hinaufzieht, erinnert sich Dimitri, wie seine türkischstämmige Großmutter im einst erklärte, dass das Wort ’dolmuş’ voll bedeutet. Die meiste Zeit trifft dies wohl zu, allerdings nicht an diesem sehr frühen Morgen. Während er hinter dem Fahrer in den Sitz gleitet und der Bus über die Straße weiterfährt, hört er die längst Verstorbene flüstern: »Steigst du in der Türkei in einen Bus, erfährst du die Stimmung des Volkes. Ach, würden die Politiker nur gelegentlich mitfahren!«

 

Dimitri schließt die Augen, denn die Fahrt wird fast zwei Stunden dauern. Kurz danach ist jedoch an ein Morgenschläfchen nicht mehr zu denken. Der hart gefederte Bus ist auf eine schaukelnde Staubpiste abgebogen.
In Ermanglung anderer Fahrgäste nimmt Dimitri den Busfahrer in Augenschein. Ein dicker, buschiger Schnauzer über den Lippen prägt das faltige Gesicht. Nachtschwarz glimmen ihm seine Augen im Rückspiegel entgegen. Bestimmt fährt der Buslenker lebenslang solch einen Kleinbus, überlegt Dimitri. Der macht auf ihn nämlich den Eindruck, er fühle sich als der uneingeschränkte Herrscher über die asphaltierten Straßen, oder wie hier, die ausgewaschenen Nebenwege. In seiner bewegten Mimik lässt es sich lesen, wie in einem Buch. In dem einen Moment, tiefe Verachtung. Die Augenbrauen finster zusammengekniffen, die Mundwinkel weit heruntergezogen. Momente später richtet er den Oberkörper auf, drückt mit seiner aufrechten Haltung wortlosen Vorwurf aus. Im Momenten, wenn er den Bus in zu enge Haarnadelkurven lenkt, sie im steilen Winkel an fährt.
Als er die asphaltierte Hauptstraße erreicht, biegt der Fahrer nach rechts ab, Bergama, so das Richtungsschild. Menschen warten am Straßenrad. Der Fahrer hupt, hält, lässt sie einsteigen. Kaum fällt die Tür ins Schloss, drückt er  aufs Gaspedal und das Kleingeld wandert durch unzählige Hände bis zu ihm.

 

Dimitri muss eingeschlafen sein. Mehr als eine Stunde zeigt ihm der Blick auf die Uhr. Inzwischen quält sich der klapprige Bus über eine Serpentinenstraße bergauf. Die Steigung scheint endlose. Der altersschwache Motor rasselt. Hin und wieder scheint es, als würde er jeden Moment aussetzen. Das qualvolle Stöhnen setzt sich in den Ohren der Mitreisenden fest. Atemlos lauschen die Fahrgäste auf die ächzenden Geräusche, verstummen für eine Weile sogar in ihren Gesprächen. Japsend erklimmt das Fahrzeug die allerletzte Hürde. Der Anstieg ist beendet. Unvermittelt setzt  der Redefluss wieder ein. Es fehlt, das triumphierende Geheul des Fahrers, der krachend einen höheren Gang einlegt. In seiner Mimik widerspiegelt sich das Glück. Ein Glück, das sich langsam ausdehnt, den angestrengten Gesichtsausdruck bis in den letzten Winkel hinein entspannt. Fröhliche Pfeiftöne auf den Lippen steuert er nun seinen Gefährten in die gegengleichen engen Serpentinen abwärts. Heiter ertönt vor jeder Kurve ein munteres Hupkonzert. Furchtlos legt er den Bus in die engen Kehren. Ob er wohl täglich auf diese Art und Weise mit seinem Schicksalsgefährten leidet? Dimitri hat Mitleid mit dem geschundenen Motor und fragt sich, wann er endgültig den Geist aufgeben wird? Den Busfahrer interessieren diese Überlegungen im Moment sicherlich nicht. Die Tortur der Anstiege ist, für den Moment zumindest, vorüber. Die Erhebungen werden niedriger. Sichtlich zufrieden thront er auf dem Fahrersitz. Ein blaues Auge schwingt am Rückspiegel. Ab und an belohnt er mit einem leichten Tätscheln seinen blauweißen Kameraden. Dimitri kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.

 

Sie erreichen bald die Kreuzung vor [2]Altinova. Er verlangsamt die Fahrt. Dimitri sieht aus dem Fenster. Eine Frau hebt die Hand. Bekleidet mit einem bodenlangen Rock und einer bunten Bluse. Ihre Haare bedeckt von mit einem passenden Tuch mit weißem Blütendruck, eingefasst mit einer handgearbeiteten Häkelborte. ’Wie Großmutter. Auf den Bildern ihrer Jugend’, überlegt Dimitri.
Der Fahrer begrüßt sie mit einem herzlichen »Merhaba[3], Fatma hanim.[4]» Er nimmt ihr den schweren Korb voller Tomaten ab, schiebt ihn in eine Ausbuchtung neben sich. Sie setzt sich auf die andere Seite, nah zu Dimitri und doch durch den Gang getrennt. Der Busfahrer hält, wo jemand wartet oder aussteigen will. Haltestellen gibt es nicht. Bisweilen stapelt er Kisten mit Obst, Säcke mit Oliven oder Hühnerkäfige in die Freiflächen, um sie ein paar Kilometer später vor einem Geschäft oder einem Lokal abzuladen.
Unter einer gekrümmten Kiefer wartet ein alter Mann, auf den Krückstock gestützt, mit einer gehäkelten Gebetskappe auf dem Haupt. Zwei junge Fahrgäste hieven ihn in den Bus.
Dimitri jedoch beobachtet unauffällig die Frau, die der Fahrer zuvor begrüßte. ’Großmutter in jung’, sinniert er erneut und schüttelt den Kopf. Da bemerkt er, dass auch sie immer wieder verstohlen herüberschaut. Seine Mundwinkel heben sich an, Heiterkeit schleicht in sein Gesicht. Nicht er, der alte Mann, ist von Interesse. Ihr Blick ruht auf den Blumen, die in seinem Schoß liegen. Die beiden wechseln kein Wort und doch verbindet sie der Strauß aus Olivenzweigen und weißen Rosen auf eine eigene Art und Weise.

 

Es ist Zeit auszusteigen. Dimitris Augen beginnen zu leuchten. Er klopft dem Fahrer auf die Schulter. Bittet ihn, an der Mauer mit dem Eisengittertor, das bereits in seinem Blickfeld auftaucht, anzuhalten. Ein junger Mann steht mit ihm auf, als der Bus die Fahrt verlangsamt. Bevor er seine Hilfe beim Aussteigen dankbar in Anspruch nimmt, legt Dimitri die Blumen entschlossen in den Schoß von Fatma.
»Mögen Sie viel Freude an den Blumen haben, Fatma hanim. Meine Teresa wird sich freuen, dass ich sie Ihnen gegeben habe. Ich werde es ihr gleich erzählen.«
Nachtschwarze Augen fixieren den fremden alten Mann. Ein Staunen liegt in ihrem Gesicht. Bevor noch Wort über ihre Lippen kommt, hat Dimitri die Hand des Helfers ergriffen, ist ausgestiegen. Lächelnd hebt er die Hand zum Abschied. Dann dreht er sich um. Der Grauhaarige spürt ihren Blick in seinem Rücken. Auf den Stock gestützt greift nach der Klinke am Friedhofstor, schlurft mit müden Beinen zwischen den Grabreihen entlang, da ertönt der letzte krachende Gangwechsel.

 

Dimitri ist allein. Er  steuert die meerseits gelegene Begrenzungsmauer an. Geht über den Kiesweg hin zu dem Grab seiner Großmutter. Ihretwegen ist zuerst sein Vater und später er über die Grenze gegangen. In den ersten Novembertagen spürt er den Drang, mit Großmutter Teresa Zwiesprache zu halten. Seit seinen späten Kindertagen besucht er die Mutter seines Vaters regelmäßig auf diese Art und Weise. Sie hat sich1923 dem Bevölkerungsaustausch verweigert, sich in ihrer Kate zwischen dem Olivengarten versteckt. Ihren Sohn und seine Familie aber, die schickte sie hinüber nach Lesbos. Dimitri weiß gar nicht mehr, wann er zum ersten Mal auf dem Boot mit zu ihr fahren durfte. Nur dass sie schon sehr alt gewesen war. Die greise Frau strahlte eine allesumschließende Liebe aus, eine Herzlichkeit, die ihn umschloss, wenn sie die Arme um ihn legte. Sie liebte die Arbeit im Olivengarten und die weißen Rosen, die an der Mauer zu ihrem brüchigen Haus wuchsen. Wie oft sind Vater und ich das Risiko eingegangen, um die Lebende und später ihr Grab zu besuchen. Ich müsste nachrechnen, grübelt er, doch eigentlich, ist es nicht bedeutsam. Er bleibt vor ihrer Grabstätte stehen. Auf der Marmorplatte ihr Name. Ein schlichtes Teresa und die Jahreszahlen von Geburt und Tod. Längst sind die Blumen vom vergangen Jahr verwelkt. Niemand hat sie fortgenommen. Er leert das Gefäß und stellt es zurück auf seinen Platz. Mit der Hand wischt er die Grabplatte sauber. Die gebückte Haltung fällt ihm schwer. Ächzend richtet er sich auf.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag Großmutter. Verzeih, dass ich heute ohne Blumen zu dir komme. Ich habe deine Lieblingsblumen einer hübschen Frau geschenkt. Weißt du, sie erinnerte mich sehr an dich, obwohl wir nicht einmal miteinander sprachen. Aber ihre Augen glänzten, beim Anblick des Blumenstraußes wie deine.«
Der alte Mann versinkt in seiner Zwiesprache, betet. Nach geraumer Zeit wirft er einen sehnsüchtigen Blick hinaus aufs Meer. Längst haben sich die Nebelbänke im Licht der warmen spätherbstlichen Sonnenstrahlen aufgelöst. In der türkisblauen zeichnet ein Schimmer in der Ferne die charakteristischen Umrisse der Insel Lesbos ab.
»Es ist schlimm geworden«, klagt er. «Zwischen dem Festland hier und Lesbos stehen nach wie vor die politischen Mächte. Sie sind nie mit dem Dolmuş gefahren. Grossmutter, werden sie irgendwann endlich lernen, auf die Menschen zu hören?«
Seine Augen folgen einer Yacht. Ihr Bug zieht schäumende Spuren durch das Blau. Dahinter scheinen die Segelboote geradezu zu schweben. Mit Segeln, in der Herbstbrise gebläht.

 

«In Syrien ist Krieg. Städte liegen in Schutt und Asche. Die Menschen flüchten in Scharen über das Meer, ihr Ziel - Europa. Sie verschärfen die Patrouilleneinsätze. Illegale wie ich, werden schonungslos verfolgt. Das Glück war immer bei mir, auch heute. Nie haben sie mich geschnappt. Zu gut waren meine Ohren, das Boot, die ’Teresa’, wendig und schnell. Die Inseln, zwischen denen wir hindurch müssen, vertraut.“

 

Dimitri legt seine Hand auf den warmen Marmor. „Ich komme zum letzten Mal, Großmutter Teresa. Mein Boot und ich, wir sind zu alt geworden.«


[1] Bus, meist Kleinbus

[2]Ort in der Türkei

[3] Hallo

[4] Frau